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Überflüssige Berufe...


Bei dieser Seite habe ich lange überlegt, ob und wie ich sie ins Netz stelle. Sinnloses Meckern liegt mir nicht; wenn mich etwas stört, versuche ich, das Problem auf konstruktive Weise abzustellen. Allerdings bin ich bei einigen Sachen geradezu machtlos, weil es leider unter anderem menschliche Eigenschaften gibt, die nicht abgestellt werden können wie z.B. wie Gleichgültigkeit oder geistige Bequemlichkeit. Sogar Friedrich Schiller hatte schon vor über 200 Jahren die Jeanne d'Arc in seinem Theaterstück "Die Jungfrau von Orleans" verzweifelt ausrufen lassen, daß selbst Götter vergebens gegen die Dummheit kämpfen. Also muß das Problem hinsichtlich der menschlichen Fähigkeit (oder auch Unfähigkeit) zum Lernen aus realen Situationen schon damals bekannt gewesen sein und somit ist PISA (Programme für International Student Assessment) kein Vorrecht unserer heutigen Zeit.

Solange sich geistige Unfähigkeit bzw. der Hang zur Lernresistenz nur im privaten Bereich äußert, mag eine Korrektur schnell und problemlos mit dem Hinweis "... eh bist Du blöd????..." erfolgen, wenn sie sich aber im öffentlichen Bereich z.B. in Stein und Beton manifestiert, ist es schon etwas komplizierter. Sicher kann ich zu einem Ar(s)chitekten (ich betone immer das "s" in dem Wort, was übrigens nicht von mir stammt, sondern von einem Architekten höchstpersönlich kam), der in seinem Bauwerk wieder einmal ein paar wundervolle, für einen Rollstuhlfahrer aber unüberwindliche Stufen eingebaut hat, sagen "...eh bist Du (oder sind Sie) blöd???...", bloß da ändere ich nichts an dem unbefriedigenden Zustand und handele mir allenfalls eine Klage wegen Beleidigung ein. Sicher ist wieder "nur" vergessen worden, daß es Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die aus den herrschenden körperlichen Normen herausfallen. Zu früheren Zeiten war man diesen körperlichen Normen wesentlich näher; solche Längenmaße wie Fuß, Elle oder Daumenbreite oder das in den USA nachwievor gültige nichtmetrische System, das sich eher an konkret vorstellbaren als an abstrakten Maßen orientiert, mögen als Beweis dienen (-> Kurze Zwischenfrage: Weißt Du, wie lang ein Meter ist? - Aber ein Schritt -> Yard ist doch ohne weiteres vorstellbar, oder???). Nun will ich keineswegs das metrische System als Ursache für den baulichen Murks verteufeln und es damit abschaffen wollen. Vielmehr möchte ich darauf aufmerksam machen, daß es Menschen - auch Ar(s)chitekten genannt - gibt, die den Umgang mit diesen System eigentlich kennen müßten, letztenendlich aber immer wieder Ergebnisse zu beklagen sind, die diesen verantwortungsvollen Umgang vermissen lassen. Womit wir bei der Überschrift wären.

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Informationstafel Eingang Ostseite im 2005 umgestalteten Saale-Park / Nova Eventis . Wenn mir nun noch jemand sagen könnte, was da auf der Tafel steht, die für Rollstuhlfahrer viel zu hoch installiert wurde, dann wäre ich auch informiert... (?) :-(

Ausgangspunkt für diese Gedanken war ein versuchter Kinobesuch im UFA-Filmpalast Dresden, Petersburger Straße, wo der Kartenverkäuferin noch rechtzeitig einfiel, daß ich in den Filmsaal 1 als Rollstuhlfahrer nicht rein könne - ich würde im Gang stehen und somit die Notausgangswege versperren. In anderen Kinos komme ich rein, komme sogar auf die Behindertoilette oder kann etwas essen oder trinken, wenn ich mir aber einen Film ansehen möchte (was im Kino ja durchaus mal passieren kann), bekomme ich entweder eine Genickstarre (die Aussparungen - also schnell weggelassene Sitze - sind in der ersten Reihe - bei den üblichen Großleinwänden eine sehr anstrengende Weise einen Film verfolgen zu wollen) oder ich muß samt Rollstuhl über Treppen zu einem akzeptablen Platz gehoben werden (ein sehr anstrengender Weg für das Kinopersonal, damit ich einen Film verfolgen kann). Ein anderes, kürzlich erlebtes Beispiel passierte an Deutschlands erster Adresse, dem Potsdamer Platz, wo im dortigen Cinemaxx der Saal 10 für den Rollstuhl nicht geeignet ist. Bestimmte Filme, die nicht gerade "Mainstream" sind, laufen leider nur dort )-: .
Die Kartenverkäuferin bzw. die UFA können herzlich wenig dafür, daß ich da nicht rein komme bzw. kein Filmgenuß habe, sondern dafür gibt es einen verantwortlichen Ar(s)chitekt bzw. Bauingenieur, die meiner Meinung nach ihrer beruflichen Verantwortung nicht nachgekommen sind.

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Im Zuge der Flutung eines ehemaligen Tagebaurestlochs wurde in Bitterfeld ein touristischer Anziehungspunkt geschaffen: der Pegelturm in der Goitzsche, der über eine Seebrücke zu erreichen ist, normalerweise...*

Wenn man dann noch auf die bäulichen Mängel z.B. am neugebauten Pegelturm der Goitzsche in Bitterfeld, der nur über eine Seebrücke mit Stufen zu erreichen ist, hinweist, so geschehen durch den Klub für Körperbehinderte und ihre Freunde Bitterfeld e.V., bekommt man von diesen verantwortlichen Herren als Auskunft "... die Zugängigkeit der Seebrücke für Rollstuhlfahrer wird noch gewährleistet...", nur leider hat man das Datum, wann das passieren soll, vergessen anzugeben. Hier kommt zum gleichgültigen (= verantwortungslosen) Umgang noch der Versuch der Verdummung hinzu (die Anfrage wurde bereits im Jahr 2000 gestellt), was mich dann ehrlich gesagt etwas mißgelaunt stimmt und am praktischen Sinn von Ar(s)chitekten und Bauingenieuren zweifeln läßt.*

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...denn erst geht es 3 Stufen rauf...
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...und dann über 20 wieder hinunter auf die Seebrücke...

Keine Frage - viele Bauten, die neu entstanden sind, sind inzwischen so angelegt, daß Rollstuhlfahrer sie auch betreten (= befahren) können. Was in für meine Begriffe fehlt, ist der Blick für das Detail (als Erbauer einer Modellbahnanlage weiß ich, wovon ich spreche), was den gut gemeinten Ansatz - Menschen außerhalb der herrschenden körperlichen Normen - zu integrieren, zunichte macht bzw. ihn in sein Gegenteil verkehrt. Als Beispiel mag meine Trainingsstrecke gelten, wo ein Teil der Hauptstraße in der Innenstadt von Wolfen zwar neu gebaut wurde (wir als Behinderte wurden dazu auch angehört, aber leider hat man nicht genau genug zugehört), für mich im Rollstuhl aufgrund der dort herrschenden seitlichen Überhöhung des Fahrrad-/Fußwegs aber nur unter großen Anstrengungen (ein Arm wird beim Vortrieb des Rollstuhls überlastet) benutzbar ist und ich somit wieder gezwungen bin, mir auf gefährlichere Weise mit LKW's, PKW's und Bussen die Straße zu teilen, auf der - merkwürdigerweise - das Rollen für mich kein Problem ist (die seitliche Überhöhung ist dort minimal). Also muß geschlußfolgert werden, daß neben Ar(s)chitekten und Bauingenieure auch noch Verwaltungs"fach"angestellte nicht unbedingt notwendig sind, wenn man bauliche Probleme lösen will. Ich möchte diese Einschätzung hier nicht auf Politiker ausdehnen, auch wenn das nahe liegt und es mir geradezu in den Fingern juckt. Ich mußte aber feststellen, daß es hier in Deutschland keinen Lehrberuf als Politiker gibt. Ergo ist jeder Politiker auch nur eine Anlernkraft....(-;

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Sonntag morgens auf der Trainingsrunde: Schon mit bloßem Auge ist die Überhöhung nach rechts zu sehen. Bei ca. 850 Armzügen pro Kilometer Rollstuhlfahrt wird das schon echt zur Belastung - anschließend hat man das Gefühl, der Arm fällt ab...
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Ein weiteres Beispiel aus der Nähe. Im Zuge der Umgestaltung der Innenstadt wurde ein Kontaktbereich angelegt, der für Stadtfeste Präsentationsmöglichkeiten bietet. Allerdings ist er teilweise nur über Stufen zu erreichen.
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An den Seiten wurde über schiefe Ebenen Zugangsmöglichkeiten für Rollstuhlfahrer geschaffen, die hier zumindest auf der Nordseite auch im normalen Handrollstuhl bewältigt werden kann.
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An der Südseite hingegen wurde durch die Anbindung an den Gehweg eine Steigung erreicht, die beim Überwinden zu ungewollten Stunts führen kann. Um die Kante mit dem Rollstuhl zu überfahren, muss der Rollstuhlfahrer sein Hilfsgerät kurz ruckartig beschleunigen, um die Vorderräder anzuheben. Bei dieser Gestaltung führt das unweigerlich zum Überschlag nach hinten. Diese ar(s)chitektonische Lösung grenzt also schon an Körperverletzung - mit anderen Worten - DAS IST MURKS! ))))-:

Diese Probleme wurden aber auch schon von anderen Behinderten beschrieben und ein Ergebnis ist dann das Gleichstellungsgesetz, wo versucht wird, diesen Problemen auf administrative Weise beizukommen. Merkwürdigerweise geht es aber auch schon ohne Gesetz anders, denn in Einkaufsmärkten besteht für mich als Rollstuhlfahrer absolut barrierefreier Zugang. Wäre ich jetzt sarkastisch, würde ich sagen, man ist schon an unserem Geld interessiert - als Rentner verfügen wir infolge unseres regelmäßigen Einkommens offensichtlich über eine allseits begehrte stabile Kaufkraft -, wenn es aber an die Bildung oder Zerstreuung geht, dann möchten wir doch bitte draußen bleiben, damit die gute Laune der anderen durch unsere Gegenwart nicht beeinträchtigt wird (z.B. die Eve Bar am Schauspielhaus Bochum, die nur über eine enge Wendeltreppe zu erreichen ist). Nur schade, daß im Baumarkt halt so selten Blues- oder Jazzbands spielen. Und von Möglichkeiten für körperlich interessante Spielchen zu zweit vollkommen zu schweigen, wenn man trotz alledem jemanden kennen gelernt hat und auf einen Kaffee hochkommen soll. Nur hat die Gute vielleicht gerade keinen Fahrstuhl zur Hand. Aber für sowas gibt es doch eh Videotheken oder Bordelle, die in den seltensten Fällen auch rollstuhlgerecht sind. Und außerdem - Behinderung und Sex - die sollen doch froh sein, überhaupt überlebt zu haben. (/Sarkasmus-Modus aus).

Allerdings - und dies jetzt ohne eingeschalteten Sarkasmus-Modus - sind im alltäglichen Straßenbild immer mehr Rollstuhlfahrer bzw. ältere Menschen mit Rollatoren unterwegs, die an diese baulichen Hindernisse stoßen. Der medizinische Fortschritt hat dafür gesorgt, daß heute noch Menschen am Alltagsleben teilnehmen können (und wollen), die dazu vor einigen Jahrzehnten dazu noch nicht in der Lage waren; die (fehlende) bauliche Entwicklung bzw. mangelhafte Konstruktionen dies aber nicht oder nur unter immensen zusätzlichen Aufwendungen erst nachträglich gewährleisten. Insbesondere werden sie mit mir schon mal über straff eingestellte Federschließhebel an den Türen besonders an Behindertentoiletten geflucht haben, wenn sich dadurch die Tür nur unter Schwierigkeiten öffnen läßt und man eigentlich 3 Hände bräuchte, um mit dem Rollstuhl durch die Tür zu kommen, wobei einem das Wasser schon Oberkante Unterlippe steht. Der einzige schwache Trost für mich besteht darin, daß auch Ar(s)chitekten und ihre Konsorten mal in diese Lage geraten können. Ich wünsche bestimmt niemandem meine Situation, aber ich denke, bei Ar(s)chitekten kann man da mal eine Ausnahme machen ….

Oder gesetzt den Fall, ich möchte als Investor Arbeitsplätze schaffen, ein barrierefreies Büro müßte ich trotz des ungehemmten spekulativen Baubooms auf der grünen Wiese erst lange suchen - eine Situation also, die nicht nur hart an der Grenze der Verletzung meines per Grundgesetz verbrieften Rechts auf körperliche Unversehrtheit bzw. persönliche Entfaltung und Bewegungsfreiheit entlangschrammt, sondern auch noch arbeitsplatzfeindlich orientiert ist. Dafür haben wir aber wunderschön beleuchtete Wiesen und Äcker - ist doch auch ganz nett, dieser in Beton gegossene Rassismus .... :-(

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2003 filmte ein Kamera-Team auch einen anderen kritischen Punkt auf meiner Trainingsstrecke - die unebene Fahrt bzw. die Benutzung der Straße auf der anderen Seite mit dem Rollstuhl kommt auch einem Stunt gleich. Die Bilder dazu waren in der Sendung "Selbstbestimmt!" am 26.04.2003 im MDR zu sehen.

Schaue ich mir dann noch die Situation z.B. in den Niederlanden an, wo ich wirklich überlegen muß, wo ich als Rollstuhlfahrer - private oder öffentliche Bauten - nicht reingekommen bin (hier in Deutschland muß ich überlegen, wo ich reinkomme), dann frage ich mich, ob dieser Lösungsansatz, Zugängigkeit gewissermaßen von oben per Dekret zu verordnen, richtig ist bzw. es nicht viel besser wäre, durch mehr gelebte Integration in der Gesellschaft solchen baulichen Murks zu verhindern. Ein Vorschlag zur Abhilfe dieser abstrusen Situation mag sein, dass Ar(s)chitekten ihre "Werke" im Rollstuhl abnehmen müssen - in Deutschland würden sie da nicht weit kommen. Die demografische Situation hierzulande wird in der Zukunft dafür sorgen, daß eher mehr Rollstuhlfahrer als weniger unterwegs sein werden. Die Schwierigkeit, manche bauliche Standardsituation damit nicht mehr verwenden zu können, würde meiner Meinung nach zu neuen Ideen in der Ar(s)chitektur führen - hier kommt das gute alte Sprichwort zum Zuge, daß Not bekannterweise erfinderisch macht - und das Einerlei deutscher Innenstädte merklich beleben. Allerdings setzt das geistige Beweglichkeit, Mut zu ungewöhnlichen Lösungen und Rückgrat für das Kämpfen für eine Idee voraus - und wenn ich mir die PISA-Studie ansehe, habe ich da wenig Hoffnung. Es müßte schon im Kindergarten beginnen, wo behinderte und unbehinderte Kinder zusammen miteinander spielen können. Spielen heißt ja, sich fantasievoll mit der Umwelt - auch mit den Hindernissen - auseinandersetzen (als Modellbahnanlagenbetreiber weiß ich da wiederum, wovon ich spreche), was offensichtlich in der erwachsenen Ar(s)chitekten- und Verwaltungswelt fehlt, denn dann wären diese oben angesprochenen Probleme sicher schon erkannt und ich bräuchte diese Seite nicht ins Netz zu stellen.

Aber so muß ich es leider tun )-: .....


Anmerkung am 18.08.2002 zum Pegelturm: Das Foto des Pegelturms entstand unmittelbar vor den sintflutartigen Regenfällen und dem darauffolgenden historischen Muldehochwasser in Mitteldeutschland. Durch einen Deichbruch zwischen Pouch und Löbnitz war die Goitzsche so weit vollgelaufen (Pegelstand 16.08.2002 14 Uhr 77,5 m über NN - 71 m waren bisher das normale Niveau) mit der Folge, daß Bitterfeld stark bedroht war und mit Muldewasser vollläuft. Natürlich betrifft es auch den Bereich der Seebrücke bzw. den Pegelturm - offensichtlich war auch die Natur der Meinung, daß diese Konstruktion noch nicht der Weisheit letzter Schluß ist bzw. sein kann. Es ist aufgrund der Beschädigungen dieses Komplexes noch nicht absehbar, wann diese touristische Attraktion wieder genutzt werden kann.
Anmerkung vom 13.02.2003: Seit dem 09.02.2003 sind nach umfangreichen Reparaturen Seebrücke und Pegelturm wieder begehbar - allerdings Rollstuhlfahrer haben nach wie vor keine Chance; die gezeigten Stufen zieren weiterhin in wundervoll ignoranter Weise diese touristische Attraktion )-:
Anmerkung vom 15.10.2003: Ende September ist eine schiefe Ebene zur Seebrücke hinab installiert, die nun auch Rollstuhlfahrern ein Befahren der Seebrücke ermöglicht. Auch wenn es da Aktivitäten von verschiedenen Richtungen gab und letztendlich von dieser Seite hier sicher der kleinste Beitrag zu diesem Erfolg erbracht wurde - sie steht offensichtlich nicht umsonst im Netz.
Fortsetzung der unendlichen Geschichte am 02.01.2007 durch einen ziemlich windigen Herren namens "Kyrill": Der brachte es nämlich mit seinen Winden in Orkanstärke fertig, die aus Pontons bestehende Seebrücke teilweise zu versenken. Dabei zeigte es sich, daß dies durch den Konstruktionsfehler, die Pontons gegen die vorherrschende Windrichtung (und nicht mit ihr) an den Pfeilern zu befestigen, begünstigt wurde. So strömte das Wasser zusätzlich durch den Wind aufgepeitscht in die leckgeschlagenen Pontons - offensichtlich gibt es bei den Ar(s)chitekten doch noch Bildungsdefizite hinsichtlich der Natur und ihrer Vorgänge. Inzwischen wurden Seebrücke und Zugang dazu repariert. Es existiert inzwischen eine schiefe Ebene als seitliche Zufahrt auf die Seebrücke - es hat also nur 12 Jahre gedauert....


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